Weihnachten
Unsere Kirche feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen. Man kann
sich kaum etwas Lieblicheres denken als Pfingsten und kaum etwas Ernsteres und
Heiligeres als Ostern. Das Traurige und Schwermütige der Karwoche und darauf das
feierliche des Sonntags begleiten und durch das Leben. Eines der größten Feste
feiert die Kirche fast mitten im Winter, wo die längsten Nächte und die
kürzesten Tage sind, wo die Sonne am schiefsten gegen unsere Gefilde steht, und
Schnee und Fluren deckt: das Fest der Weihnacht. Wie in vielen Ländern der Tag
vor dem Geburtsfeste des Herrn Christabend heißt, so heißt er bei uns der
heilige Abend, der darauf folgende Tag der heilige Tag und die dazwischen
liegende Nacht, die Weihnacht. Die Katholische Kirche begeht den Christtag als
den Tag der Geburt des Heilands mit ihrer allergrößten kirchlichen Feier; in den
meisten Gegenden wird schon die Mitternachtsstunde als die Geburtsstunde des
Herrn mit prangender Nachtfeier geheiligt, zu der die Glocken durch die stille,
finstere, winterliche Mitternachtsluft laden, zu der die Bewohner mit Lichtern
oder auf dunkeln, wohlbekannten Pfaden aus schneeigen Bergen an bereiften
Wäldern vorbei und durch knarrende Obstgärten zu der Kirche eilen, aus der die
feierlichen Töne kommen, und die aus der Mitte des in beeiste Bäume gehüllten
Dorfe mit den langen, beleuchteten Fenstern emporragt. Mit dem Kirchenfeste ist
auch ein häusliches verbunden. Es hat sich fast in allen christlichen Ländern
verbreitet, dass man den Kindern die Ankunft des Christkindleins - auch eines
Kindes, des wunderbarsten, das je auf der Welt war - als ein heiteres,
glänzendes, feierliches Geschehen zeigt, das durch das ganze Leben fortwirkt und
manchmal noch spät im Alter bei trüben, schwermütigen oder rührenden
Erinnerungen gleichsam als Rückblick in die einstige Zeit mit den bunten,
schimmernden Fittichen durch den öden, traurigen und ausgeleerten Nachthimmel
fliegt. Man pflegt den Kindern die Geschenke zu geben, die das heilige
Christkindlein gebracht hat, um ihnen Freude zu machen. Das tut man gewöhnlich
am heiligen Abend, wenn die tiefe Dämmerung eingetreten ist. Man zündet Lichter
und meistens sehr viele an, die oft mit den kleinen Kerzlein auf den schönen
grünen Ästen eines Tannen- oder Fichtenbäumchens schweben, das mitten in der
Stube steht. Die Kinder dürfen nicht eher kommen, als bis das Zeichen gegeben
wird, dass der heilige Christ zugegen gewesen ist und die Geschenke, die er
mitgebracht, hinterlassen hat. Dann geht die Tür auf, die Kleinen dürfen hinein,
und bei dem herrlichen, schimmernden Lichterglanze sehen sie dinge an dem Baume
hangen oder auf dem Tische herumgebreitet, die alle Vorstellungen ihrer
Einbildungskraft weit übertreffen, die sie sich nicht anzurühren getrauen, und
die sie endlich, wenn sie dieselben bekommen haben, den ganzen Abend in ihren
Ärmchen herumtragen und mit sich in das Bett nehmen. Wenn sie dann zuweilen in
ihren Träumen hinein die Glocken töne der Mitternacht hören, durch welche die
Großen in die Kirche zur Andacht gerufen werden, dann mag es ihnen sein, als
zögen jetzt die Englein durch den Himmel, oder als kehre der heilige Christ nach
Hause, welcher nunmehr bei allen Kindern gewesen ist und jedem von ihnen ein
herrliches Geschenk gebracht hat.
Wenn dann der folgende Tag, der Christtag kommt, so ist er ihnen so feierlich,
wenn sie früh morgens, mit ihren schönsten Kleidern angetan, in der warmen Stube
stehen; wenn der Vater und die Mutter sich zum Kirchgang schmücken, wenn zu
Mittag ein feierliches Mahl ist, ein besseres als an jedem Tage des ganzen
Jahres, und wenn Nachmittags oder gegen den Abend hin Freunde und Bekannte
kommen, auf den Stühlen oder Bänken herumsitzen, miteinander reden und behaglich
durch die Fenster in die Wintergegend hineinschauen können, wo entweder die
langsamen Flocken niederfallen oder ein trübender Nebel um die Berge steht oder
die blutrote, kalte Sonne hinabsinkt. An verschiedenen Stellen der Stube,
entweder auf einem Stühlchen oder auf der Bank oder auf dem Fensterbrettchen
liegen die zauberischen, nun aber schon bekannteren oder vertrauteren Geschenke
von gestern Abend herum.
Hierauf vergeht der lange Winter, es kommt der Frühling und der unendlich
dauernde Sommer - und wenn die Mutter wieder vom heiligen Christ erzählt, dass
nun bald sein Festtag sein wird, und dass er auch diesmal herabkommen werde, ist
es den Kindern, als sei seit seinem letzten Erscheinen eine ewige Zeit
vergangen, und als liege die damalige Freude in einer weiten, nebelgrauen Ferne.
Weil dieses Fest so lange nach hält, weil sein Abglanz so hoch in das Alter
hinaufreicht, so stehen wir so gerne dabei, wenn Kinder dasselbe begehen und
sich darüber freuen.
Adalbert Stifter