Der heilige Abend
Es ist Weihnachtsabend, die letzten kleinen Lichter brennen noch
am Tannenbaum, die Kinder spielen, allmählich
ruhiger geworden, mit
den neuen Sachen, die Bescherung ist vorbei; ist nun auch aller
Weihnachtsgedanke fertig und vorbei? Geht es nun wieder in gleichem
Schritt und Tritt durch alle Tage, bis wieder einmal die Lichter
angesteckt werden? Ist alle innere Erhebung nur wie der kurze Glanz
des Bäumchens auf dem Tisch? Fallen wir nun, nach dem Feste, sofort
wieder in unser gemächliches Gewohnheitschristentum, von dem man
überhaupt kaum recht weiß, ob es noch Christentum ist? Oder bleibt
uns etwas? Und wenn etwas bleibt, so fragt es sich, was dieses
Bleibende ist.
Es bleibt ein tiefer Eindruck davon, dass wir Christen eine
Brudergemeinschaft sein sollten. Christi arme Krippe lässt uns nicht
ganz zur ruhe kommen. Wir hörten in der Kirche singen: "Er ist auf
Erden kommen arm, dass er unser sich erbarm und in dem Himmel mache
reich und seinen lieben Engeln gleich." Diese Liebe ist das heilige
Weihnachtsgeschenk, das wir bis ins Innerste hinein fühlen. Jesus,
der brüderlichste von allen, die leibhaftige Liebe, ist uns geboren.
Er ist vor vielen Jahrhunderten geboren und stirbt nun niemals. Die
Liebe ist lebendig und klopft bei uns an, ob wir sie einlassen
wollen. Das Weihnachtsfest hat uns wieder gefragt: wollt ihr zum
Reiche Gottes gehören, zum Bunde der Hilfe und Liebe?
Ob wir wollen? Ja, Herr, wir möchten wohl, aber es ist uns zu
schwer! Wir versuchen es, deine Liebe in unser Leben hineinzusetzen
und machen dabei die beständige Erfahrung unserer großen
Hilflosigkeit. Wo und wie soll man anfangen, um wirklich Liebe zu
üben? Man versucht es mit einzelnen Menschen und merkt, wie viel
dazu gehört, auch nur einigen anderen wirklich zu dienen. Hinter den
einzelnen, die wir lieben möchten, stehen aber Tausende, grau und
massenhaft, arme Menschen, mit armen Seelen. Liebst du die auch?
Oder gehen diese dich nichts an? Ist die Masse nicht da für dich?
wie kann man aber die Masse lieben? Soll man sie lieben in Zorn oder
in Geduld? Soll man für sie kämpfen oder mit ihr leiden? Oder ist
beides zugleich möglich? Was ist überhaupt allgemeine christliche
Menschenliebe? Ist es etwas Wirkliches oder haben sich das fromme
Leute nur so gedacht? Ach, lieber Heiland, der du aus Liebe in die
Welt kamst und aus Liebe starbst, nimm du uns in der Stille der
Weihnachtstage ruhig zur Seite und gib uns einen praktischen
Unterricht in dem, worin du Meister bist! Herr, lehre uns Liebe
haben!
Wenn wir die rechte Liebe hätten, dann würden wir dem Frieden auf
Erden näher sein. Wo lebendige Liebe ist, da ist persönlicher
innerer Friede, denn da fehlt die Zerrissenheit, die durch Hass und
Neid in die Seelen hineinkommt. Wer wirklich liebt, der glaubt an
Gott, denn er sieht sein Leben nicht als verloren an. Er hat einen
Zweck, eine Aufgabe, er ist nicht ein Spiel des Zufalls und des
blinden Ungefährs. Wer Christi Liebe versteht, der hat in sich das
Verständnis gewonnen für den Zusammenklang: Ehre sei Gott in der
Höhe und Friede auf Erden! Er ist herausgenommen aus der Welt der
bloßen irdischen Nichtigkeiten. solche Personen aber sind die
Vorboten besserer Zustände im menschlichen Gemeinschaftsleben. Aus
ihrer Gottes - und Nächstenliebe heraus entwickelt sich ein Geist
wahren Christentums, der wie eine seelische Elektrizität von einem
auf den andern übergeht, von Eltern auf Kinder weiterströmt, und
weiter wirkend viel hartes Menschenmetall schmilzt und viel frohe
Botschaft vermittelt. Wir lernen zur heiligen Weihnacht daran
glauben, dass auch die Liebe des kleinsten und ärmsten
Menschenkindes nicht vergeblich ist zum Herbeiführen des Friedens
auf Erden. Dieser Friede, nach dem eine tiefe Sehnsucht in jeder
Brust schlummert, ist nicht ohne Kampf zu erreichen, er kommt auch
nicht mit einem Male, aber niemand ist, hoch oder niedrig, der ihm
nicht dienen könnte, wenn er nur will.
Friedrich Naumannn 1860 - 1919