Bärbels Weihnachten
Es ist der heilige Weihnachtsabend. Da herrscht in der Stadt eine
emsige, stille Geschäftigkeit in den Häusern und auf den Straßen:
die Vorbotin der fröhlichen Bescherung. Man sieht Dienstboten eifrig
dahertrippeln, die noch etwas Vergessenes oder
spät Gefertigtes auf den Weihnachtstisch holen müssen, bunte
Wachslichter oder Zuckerwaren an den Christbaum; Schusterjungen
tragen ein Paar glänzende nagelneue Stiefel; der Sattler bringt das
neu beschlagene Wiegenpferd, die Putzjungfer ein rosenrotes Hütchen,
- alles noch zur Verherrlichung des Festes.
Oben, in der großen Stube, wo das Licht so verheißungsvoll durch die
Gardinen schimmert, da waltet die Mutter als die Stellvertreterin
des lieben Christkindes; sie ordnet und rüstet und bereitet, und die
Kinder sitzen mit mühsam bezähmter Ungeduld in der Kinderstube, um
auf den glückseligen Augenblick zu warten, wo der Ruf ertönt und
ihnen der Lichtglanz entgegenströmt.
Auf dem Dorfe wird, in Schwaben wenigstens, der Christabend nicht so
umständlich gefeiert; er gleicht dort mehr jener wunderbaren Nacht,
wo in tiefer Stille im armen Stalle der Glanz der heiligen Weihnacht
aufging, wo nur schlichte Hirten sich sammelten um die Krippe und
hoch oben vom Himmel her der selige Festchor erklang.
Sobald es dunkel wird, werden Kunkeln und Spinnräder, alles
Arbeitsgerät beiseite gestellt; "seid still, Kinder, `s ist der
heilige Abend," ermahnt man die Kleinen in jedem ordentlichen Haus;
der Vater liest wohl in der Bibel oder man plaudert zusammen von
alten Zeiten und geht guter Zeit zur Ruh.
Die einfache Bescherung macht den Müttern auf dem Dorfe wenig Sorge
und Müh. Ein Weihnachtsbaum wird meist nur den kleinsten Kindern
angezündet; man beschert da in der Stille der Nacht, so dass die
Kinder frühmorgens ihre kleinen Gaben am Bett finden und glauben,
das Christkindlein habe sie gebracht, während sie schliefen; ein
paar Äpfel und Nüsse, wenn's hoch kommt ein Lebkuchenherz; nur wer
so glücklich ist, einen wohlhabenden Paten oder eine reiche Patin zu
haben, darf am Morgen des Weihnachtsfestes einen Besuch bei ihnen
machen mit der Frage: "Guten Morgen, Dote und Göderich, was hat's
Christkind gebracht?" Gibt es dann ein Tellerchen mit Backwerk, ein
Halstüchlein oder eine neue Weste, so ist das schon ein unerhörter
Reichtum.
Es war ein klarer, kalter Winterabend, und die Sterne spiegelten
sich im Neckarfluss, an dessen Ufer der Fährmann, im Dorfe der
Fergenhannes genannt, auf und ab ging, um sich die Kälte zu
vertreiben, bis die Stunde schlug, wo er seine Fähre verlassen
durfte. Neben ihm trippelte Bärbele, sein sechsjähriges Töchterlein,
ihre erstarrten Hände in die Schürze gewickelt; sie wollte durchaus
nicht gelten lassen, dass sie fror, weil sie so gern beim Vater an
der Fähre blieb, um mit überzufahren, wenn Leute kamen.
Vom Dorfe hörte man noch die Pumpe der Brunnen und das Brüllen des
Viehs; von dem nahen Hügel fuhren mit lautem Geschrei die Knaben
blitzschnell auf ihren Bergschlitten herab.
Jetzt aber erscholl die Bergglocke vom Turm. "Bet, Bärbele!" sagte
der Vater, indem er seine wollene Mütze abnahm und die Hände
faltete; auch Bärbele legte die Händchen zusammen und sprach
andächtig den Vers, den sie die Mutter zur Betglocke gelehrt hatte:
"Lieber Mensch, was mag bedeuten
Dieses späte Glockenläuten?
Das bedeutet abermal
Deines Lebens Ziel und Zahl;
Wie der Tag hat abgenommen,
So wird auch der Tod bald kommen.
Lieber Mensch, so schicke dich,
Dass du sterbest seliglich."
Die Knaben drüben waren beim ersten Schall der Betglocke rasch mit
ihren Schlitten abgezogen; der Ferge trug seine Ruderstangen in das
kleine steinerne Häuschen, das von einem riesigen Wachholder
beschattet am Ufer stand, und warf noch einen langen, aufmerksamen
Blick über den mondbeschienenen Fluss bis auf den Flusspfad, der vom
jenseitigen Ufer ans Wasser führte. Drüben war alles ruhig, nur an
den Fenstern des Schlösschens, das nicht fern vom Ufer stand, sah
man, seit langer Zeit zum ersten Male wieder, Licht. Der Ferge
kettete die Schiffe fest an den Pflock und schickte sich mit Bärbele
zum Heimgehen an.
"Aber, was ich weiß, Vater!" sagte die Kleine. - "So, was weißt?" -
"Ich darf heut Nacht aufbleiben, bis man's Kindl wiegt!" (Das
Kindlein wiegen nennt man die Sitte die sich in vielen schwäbischen
Dörfern erhalten hat, wo die Schulknaben um Mitternacht vor dem
Christfest einen Weihnachtschoral vom Kirchturm singen.) - "Du?"
sagte der Vater, "o, du wirst schläfrig." - "Gewiss nicht,"
versicherte die Kleine, indem sie fröhlich an seiner Hand hüpfte,
"die Mutter hat mir's versprochen; aber der Base ihr Christoph, der
hat's gut, der darf selber mitsingen! Ich möchte' auch ein Bube
sein, dann könnt' ich auch einmal Ferge werden." - "Da wärst was
Rechts," sagte der Vater, der wie die meisten Väter seinem Kinde
einen glücklicheren Beruf wünschte, als ihm der seinige erschien.
"Ei, das ist nett, so im Schiff liegen, wenn die warme Sonne scheint
und immer wieder andere Leute herüber und hinüber führen, oder gar
das große Wagenschiff, mit ganzen Wagen oder Chaisen!"
Unter dem Geplauder der Kleinen waren sie an dem Wohnhaus des Fergen
angekommen, das ganz vorn, noch etwas abseits vom Dorfe lag. Durch
die enge, geschwärzte Flur, die zugleich Küche war, trat man in die
niedere Stube. Annemarie, des Fergen Weib, und Christine, die Witwe,
die in dem Dachkämmerlein des Hauses zur Miete wohnte und der Kürze
halber Base genannt wurde, saßen am Ofen beim Scheine des
Quellämpchens beisammen, die Spinnräder waren beiseite gestellt, sie
plauderten angelegentlich von all den überstandenen Sorgen und
Trübsalen ihres Lebens, während Christoph, der Sohn der Base, ein
etwas unmüßiger Junge, sich in der Ecke der Stube damit unterhielt,
der Katze den Pelz zu streicheln, bis es Funken gab.
"Guten Abend beisammen," sagte der Ferge, indem er eintrat und
seinen dicken groben Rock mit einem alten gestrickten Wams
vertauschte; denn Schlafrock und Pantoffel sind auf dem Dorf noch
nicht Mode, zumal in der Hütte eines armen Fergen.
"Du kommst wieder zuletzt," sagte Annemarie, "der andere Ferge ist
schon lange daheim." - "Warum sollten wir alle erfrieren?" sagte
gutmütig Hannes, "es kommen heut ja wenig Leute; hab' ihn heimgehen
lassen, ein andermal ist's an mir." - "Ja, an dich kommt's nie,"
murmelte das Weib, "du bist nur zu gut."
"Nichts Neues passiert, Hausherr?" fragte die gesprächige Base. -
"Passiert alleweil nichts," sagte gleichmütig der Ferge, "doch ja,
Verwalters von drüben sind ein paar Mal hin und her gefahren mit
allerlei Sachen; morgen kommt richtig die neue Herrschaft." - "Ein
absonderlich Geflüster, dass sie herziehen so mitten im Winter,"
meinte Annemarie, "und auch nicht recht schicklich, an einem so
hohen Fest so ein Getu' anzustellen."
"Drum hat der junge Herr alles neu herrichten lassen," berichtete
Bärbele, "Verwalters Liese hat mir's erzählt." - "Ja, die weiß
alles, der kleine Fürwitz," lachte wohlgefällig der Ferge, "die
pappelt wie ein Altes." - "So schöne Tapeten seien da," erzählte
Bärbele weiter, "und goldige Kronleuchter und Teppiche, o, ich
möcht's nur sehen! und das alles kriegt die junge Frau zum
Christtag. Mich lässt Verwalter Liese vielleicht einmal hineinsehen,
wenn sie wieder verreist sind!" Und die Kleine hüpfte wieder bei dem
bloßen Gedanken an die Herrlichkeit, die sie möglicherweise noch
sehen dürfe.
Annemarie brachte die Kartoffeln und Suppe; von einem Festmahl am
heiligen Abend wusste man nichts, erst am Christfest wurden süße
Birnschnitze gespeist, die Base wurde zu Tisch geladen, was sie nur
nach vielen Umständen annahm und sich zu jeder Kartoffel noch
besonders nötigen ließ. Christoph war nicht so umständlich, der
langte tapfer zu und ließ sich's gehörig schmecken. Bärbele war viel
früher fertig und zupfte ihn ungeduldig am Wams: "Singt ihr noch
nicht?" fragte sie leis. "Ist noch z' bald," sagte Christoph kurz.
"Komm, wir wollen `nausgehen und ein bisschen horchen, ob die
anderen Buben noch nicht kommen!" bat Bärbele, und Christoph ließ
sich endlich dazu bewegen, obgleich er lieber am warmen Ofen sitzen
geblieben wäre; es freute ihn, dass ihn das kleine Mädchen so mit
Respekt betrachtete, seit sie wusste, dass er vom Turm singen dürfe.
Als die Kinder fort waren, holte Annemarie aus der Schublade ihrer
einzigen Kommode die schönen roten Äpfel die das große bunt
verzierte Lebkuchenherz und die Nüsse, die zu Bärbeles Bescherung
bestimmt waren, und ordnete sie auf dem weißen, blau bemalten
Porzellanteller, dem schönsten Stück ihres einfachen Gerätes. "Ist
fast zu hoffärtig für uns," meinte Hannes, "so ein Staatslebkuchen
wäre ja für den Spezial (Dekan) recht." - "Ach was," entschuldigte
Annemarie, "das arme Kind hat ja nicht einmal eine Dote, wie die
Kinder anderer Leute, da müssen die Eltern ein übriges tun." - "Ja,
so ein Tröpflein, das die Nottaufe erhalten, dauert mich nachher
immer," sagte die Base, "wenn es dann sein Lebtag ohne Döte und Dote
herumlaufen muss." (Döte und Dote, die Taufpaten, sind nämlich auf
dem Dorf in Schwaben gar eine wichtige Person für ihre Patchen; arme
Leute wählen gewöhnlich wohlhabende Paten, und auch dem Ärmsten wird
fast nie diese Bitte abgeschlagen. Außer der reichlicheren
Weihnachtsgabe erhält das Patchen an der Konfirmation einen Teil des
Anzugs manchmal gar ein silberbeschlagenes Gebetbuch vom Herrn Döte
oder der Frau Dote und wird da zu Gast geladen; auch in späteren
Jahren nimmt sich manchmal eine gute Dote noch mütterlich eines
verwaisten Kindes an.)
"Nun, was das betrifft," entgegnete Annemarie mit einigem Stolz, "so
hätte unser Bärbele eigentlich eine fürnehme Dote, nur dass sie
nicht da ist." - "Ja, das ist eben gerade die Hauptsache, Hausfrau,"
meinte die Base, "aber wie ist's denn da zugegangen mit Bärbeles
Taufe? Ich hab' nur die Leute davon sagen hören, ich war ja dazumal
noch nicht hier."
"Der Hannes weiß's besser als ich," sagte Annemarie, "ich war
dazumal so schwach, dass ich kaum aufsehen konnte." Hannes war nicht
sehr aufgelegt zum Plaudern, am Ende aber ließ er sich doch von der
neugierigen Base bewegen, mit seiner Geschichte herauszurücken.
"Heute sind's gerade sechs Jahr," hub er an, "es war fast eine Nacht
wie diese im Vollmond, schier so hell wie am Tag, ich musste draußen
am Neckar sein, da der andere Ferge krank lag, und ich tat's bitter
ungern, denn das Bärbele war eben geboren worden und mein Weib lag
gar schwach und krank daheim; ich wollt' aber doch aushalten bis zum
Betglockenläuten und schaute als so hinüber auf die andere Seite, wo
das Schlösslein steht, indem die alte gnädige Frau noch gelebt hat,
und hab' weiter an nichts gedacht als an mein Weib daheim. Da hör'
ich auf einmal einen hellen Schrei vom andern Ufer drüben und seh'
ein Weibsbild dem Wasser zuspringen und ein paar Mannspersonen mit
Schreien und Johlen ihr nach. Da Schrei' ich aus aller Macht
hinüber: "Ich komm', und stoß' ab, so schnell ich kann; die Kerle
drüben springen davon, und ich komm' noch eben recht, dass ich das
arme erschrockene Jungferle, das ganz bis zum Wasser her gesprungen
war, ins Schiff tragen und herüberführen kann. Es war ein junges
Fräulein und so erschrocken, dass sie lang schier gar nicht
schnaufen, geschweige denn reden konnte." - "Eine schöne Jungfer?"
fragte Christine. - "Darauf hab' ich nicht geguckt," sagte Hannes
trocken; Annemarie aber versicherte: "Bildschön, Base, bildschön sie
hatte so schöne rote Bäcklein und ein feines himmelblaues Kleid und
goldiges helles Haar mit lauter Locken und einen Pelz! Die Königin
kann es nicht fürnehmer haben." - "So, ich hab' geglaubt, du habest
vor Schwäche nichts gesehen?" sagte Hannes mit komischer
Verwunderung. "Ach was! erzähl's nur weiter," rief Annemarie. "Also
wie wir herüberkamen," fuhr Hannes fort, "erzählt sie mir nach und
nach, dass sie auf Besuch sei im Schloss drüben, und weil der Mond
so schön gescheint habe, so habe sie und noch so ein Fräulein drüben
ein bisschen lustwandeln wollen. Die vornehmen Leute haben oft
gespäßige Gelüste, statt dass sie froh sein sollten in ihrer warmen
Stube. Also, wie die zwei da `rumspazieren, kommen ein paar
rauschige Burschen daher, die sie erschrecken und ängstigen mit
ihrem wüsten Geschrei. Die verzagten Jungferlein springen
auseinander und wissen nicht wohin: die eine dem Schloss zu, die
andere gegen den Neckar, wo ich sie dann geholt habe. Wie wir hübsch
am Ufer waren und die Burschen drüben fort, wollte sie, ich sollte
sie gleich wieder hinüberführen und bis ans Schloss begleiten, sie
wollte mir ein gutes Trinkgeld geben. Aber es läutete Betglocke, und
eine Nachbarin kam heraus und rief mir, ich solle gleich heimkommen,
mein Kindlein sei so schwach und werde sterben. Da wußt' ich nicht,
was mit dem Jungferle anfangen, es war niemand um den Weg, der sie
hätte hinüberführen können, und jeden lass' ich auch nicht an mein
Schiff. So sagt' ich ihr, sie soll derweil mit mir in mein Haus
kommen; sobald ich daheim weg könne, woll' ich sie wieder
heimbringen, und sie ging gutwillig mit, weil sie wohl musste. Wie
ich heimkomm', ist das Tröpfle, das Bärbele, so schwach wie ein
Lichtlein am Auslöschen, und mein Weib weinte, dass es ohne die
heilige Taufe sterben sollte. Ich lass' das Jungferle am Ofen sitzen
und spring' zum Herrn Pfarrer, der auch gleich mit mir kam, wie er
ging und stand. Er konnte nicht mehr die heiligen Gefäße mitnehmen,
ich brachte das Wasser in unserm Krug. Das Jungferle hatte das
Kindlein auf dem Arm und weinte. "Wollen Sie Taufzeugin sein?"
fragte der Herr Pfarrer, der sich wohl auch verwunderte, wie eine so
fürnehme Jungfer in unser armseliges Häuslein komme. "In Gottes
Namen ja,' sagte sie und stellt sich mit dem Kindlein vor ihn. "Wie
soll das Kindlein heißen?" fragt er wieder. "Barbara," rief mein
Weib, ihre Mutter selig hat so geheißen. - "Amalie," sagte das
Fräulein leise, und der Pfarrer tauft es Barbara Amalie; dann hat er
so schön andächtig dazu gebetet und das Kindlein, ob es zum Leben
oder zum Tode bestimmt sei, dem Herrn so getreulich empfohlen, dass
unsere Herzen ganz getröstet wurden.
"Kaum war der Herr Pfarrer fort, so rufen mir die Nachbarsleute: am
Ufer drüben laufe man mit Fackeln und Laternen herum und schreie
herüber, es scheine, dass sie jemand suchen. "Ach, da sucht man
mich!" rief das Fräulein, legte das Kindlein, das sie seither auf
dem Arm gewiegt hatte, in sein Bettlein und sprang dem Neckar zu, so
geschwind, dass ich kaum nachkam. Als ich sie hinübergeführt, waren
drüben Bediente vom Schloss und Mägde und Frauenzimmer, und es war
ein Gefrage und geküss, dass man meinte, sie sei eben von den Toten
auferstanden; ich aber fuhr in der Stille wieder herüber, mich
trieb's zu meinem Kindlein, ich fürchtete, ich treffe es tot. Aber
es war noch am Leben, und der liebe Gott hat es uns erhalten bis auf
den heutigen Tag."
"Und die vornehme Dote hat ihm gar nichts gegeben?" fragte
Christine.
"Ein goldenes Kreuzlein mit blauen Steinen, das sie an einem
schwarzen Samtbändlein um den Hals trug, hat sie ihm aufs Kissen
gelegt," sagte Annemarie, "und die alte gnädige Frau von drüben hat
meinem Mann einen Taler Trinkgeld geschickt und mir eine Flasche
alten Wein; die Fräulein Dote aber hat nichts mehr von sich hören
lassen."
"Das war aber doch nicht schön," meinte Christine, "wenn's auch nur
eine Nottaufe war, die Dote ist sie doch immerhin." "Es ist ihr
nicht so übel zunehmen," sagte entschuldigend Annemarie,
"wahrscheinlich ist sie bald heimgereist und vielleicht weit fort;
die alte Frau ist gleich nachher gestorben, der junge Herr in die
Fremde gereist, da ist sie wohl nicht wieder in die Gegend gekommen;
für uns war es doch ein guter Abend: das große Trinkgeld! und auch
das Kind hat ja ein schönes Andenken. Und wie das schwächliche
Kindlein so gediehen ist, habe ich oft denken müssen, das Fräulein
habe ihm doch Glück gebracht, weil sie so gar schön und holdselig
war und so andächtig gebetet hat unter der Taufe."
Annemarie hatte unter dem Reden ihre kleine Bescherung versteckt,
denn Bärbele und Christoph waren ziemlich erfroren wieder
hereingekommen und horchten aufmerksam ihrer Rede zu. Bärbele hörte
gar zu gern von der unbekannten Dote erzählen, und es war ein Fest
für sie, wenn sie das goldenen Kreuzchen sehen oder gar einmal
umhängen durfte. Sie hatte keine Feenmärchen gehört oder gelesen,
aber wunderbar wie eine Fee erschien das holdselige Fräulein im
himmelblauen Kleid in ihren Träumen, und sie meinte oft, die Dote
müsse doch einmal wieder kommen.
Hannes war sehr müde und schläfrig und legte sich bald zu Bette, die
Frauen aber hatten den Kindern versprochen, aufzubleiben, bis man
das Kindlein wiege; so suchten sie sich und die Kinder wach zu
erhalten mit allerlei Geschichten und Gesprächen; Bärbele hatte viel
schöne Weihnachtsreimlein von der Mutter gelernt und war stolz, dass
sie fast noch mehr wusste als der große Christoph; am Ende aber
schlummerte sie doch ein auf dem Schemel zu Füßen der Mutter, die
wie die Christine auf dem Stuhl eingeschlafen war, Christoph hatte
sich hinaus geschlichen, um sich mit den andern Knaben in der Schule
zu versammeln, bis es Zeit sein würde, auf den Kirchturm zu steigen.
Bärbele wachte auf, als es still, ganz still in der Stube war; die
Mutter und Christine schliefen noch, das Lämplein war erloschen, nur
das klare Mondlicht erhellte das Stüblein. Sie schlich leise hinaus
und blickte hinauf zum Turm, wo man einige Lichtlein funkeln sah. In
dem Augenblick schlug die Glocke zwölf und von oben erklang von all
den hellen Kinderstimmen das Wiegenlied des göttlichen Kindes: "Ehre
sei Gott in der Höhe, der Herr ist geboren!"
Das klang dem Kinde so wunderbar, wahrhaftig wie eine Stimme vom
Himmel, sie dachte nicht mehr an die vornehme Pate, nicht an alle
Herrlichkeit der Welt, die nicht für sie bestimmt war; es war ihr,
als habe sie einen Strahl von dem Glanz des Himmels gesehen und
tief, tief drückte sich das heilige Gefühl der Weihnacht in ihre
junge Seele.
Der Morgen des heiligen Christfestes war angebrochen, ein klarer,
frischer Wintermorgen, wie Tausende von Brillanten schimmerte der
Schnee im Sonnenschein. Im Dorf herrschte die feierliche Stille, die
auf dem Lande so schön den Sonntag vor den Arbeitstagen
auszeichnete. In den Häusern rüstete man sich zum Kirchgang; nur
Kinder sah man auf den Straßen, die blaugefrorenen Gesichtchen
glänzend von der Freude des Morgens, da und dort biss eins in den
köstlichen Lebkuchen; aus Häusern, wo man reichlicher bescherte,
kamen kleine Mädchen mit rosenroten Schürzchen und einer neuen Puppe
auf dem Arm, dicke Buben, die in eine hölzerne Trompete bliesen und
die andern sammelten sich um die Glücklichen und staunten die neuen
Schätze an.
Bärbele hatte keine Puppe und kein neues Schürzchen; mit dem
verzierten Lebkuchen hatte die Mutter all ihre Mittel erschöpft;
aber ihr Winterkleidchen, aus einem alten Rock der Mutter
verfertigt, war sauber und warm, ihr blondes Haar war schön glänzend
und glatt gekämmt und in Zöpfen geflochten, die zu ihrem großen
Stolz hinten gerade wie Wegzeiger hinaus standen; sie war so
vergnügt wie die andern und stellte sich mit dem schönen Lebkuchen,
den sie gar nicht wagte anzubeißen, stolz unter die kleine Schar.
Aber als die Kinder zusammen standen und sich erzählten, bis wenn
sie zu dem Döte oder der Dote bestellt seien, als nach der Kirche da
und dort eines mit strahlendem Gesicht reich beladen mit den
Geschenken einherzog, die kleinen Geschwister neugierig und jubelnd
hinterdrein: da ward der Bärbele doch das kleine Herzchen schwer,
und sie schlich sich betrübt zur Mutter, um zum hundertsten Male zu
fragen, warum denn sie keine Dote habe. Um sie zu trösten, band ihr
die Mutter das schöne goldene Kreuzchen um und versicherte ihr, das
sei eigentlich mehr wert als alles, was die anderen Kinder von ihren
Paten bekommen; nun war die Kleine wieder vollkommen glücklich hob
ihr Köpflein, so hoch sie vermochte, nur damit jedermann den neuen
Schmuck an ihrem Hälschen sehen und bewundern konnte.
Nachmittags war im Dorf große Bewegung und die Straße stand voll
Leute; der gnädige Herr vom Schlösslein drüben sollte mit seiner
neuen Frau und vielen Gästen auf Schlitten durchs Dorf kommen. Sie
hatten geglaubt, der Neckar werde fest genug gefroren sein, um die
Fahrt auf Schlitten hinüber wagen zu können; dem war aber nicht so
und die Fergen hielten das große Wagenschiff bereit um sie
hinüberzubefördern. Ein großer Schlitten war im Dorf eine seltene
Erscheinung, da gewöhnlich hier der Neckar den Schlittenfahrten ein
Ziel setzte, drum war alt und jung in Bewegung, da man auch
neugierig war, den jungen Herrn Baron wieder zu sehen.
Die Voreltern des Barons hatten freilich eine größere Bedeutung für
die Dorfbewohner gehabt, ihnen hatte das Dorf mit einigen anderen
der Gegend zu eigen gehört; jetzt hatte der junge Baron nur noch
einige Rechte, den Besitz des Schlösschens und der schönen Güter,
die dazu gehörten; aber er war doch immer noch eine wichtige Person
für die Bauern, die ihn hatten unter sich aufwachsen sehen; die alte
gnädige Frau war sehr gut gegen die Armen gewesen, und man freute
sich, das lang verschlossene Herrenhaus endlich wieder geöffnet zu
sehen.
"Sie kommen, sie kommen!" schrieen atemlos ein paar Knaben, die vors
Dorf hinaus der Schlittenfahrt entgegengegangen waren und nun mit
den Pferden um die Wette herein sprangen.
Unter lustigem Schellengeklingel, mit mutigen Rossen bespannt,
fuhren drei elegante Schlitten, mit Tiger - und Bärenfellen bedeckt,
durch Dorf; man erkannte den jungen Herrn an der freundlichen
Höflichkeit, mit der er ringsum grüßte; auch die Dame neben ihm in
dem weißen Pelz, dem blauen Samthut mit wehenden Federn verneigte
sich freundlich; ihr Gesicht aber konnte man nicht recht sehen, da
sie es mit einem feinen blauen Schleier vor dem Wind geschützt
hatte.
Am Neckarufer gab es zum großen Vergnügen der Zuschauer einen langen
Aufenthalt; ein Teil der Herren und Damen wollten aussteigen und
sich im Kahn übersetzen lassen, indes man die Schlitten langsam auf
dem Wagenschiff überfuhr.
Während die anderen mühselig und langsam aus ihren Umhüllungen
krochen, schlüpfte die junge Baronesse gewandt aus dem warmen
Fußsack und hüpfte aus dem Wagen; die Bewunderung der Kinder, die
mit aufgesperrten Mäulern zusahen, wurde durch die zierlichen
Atlasstiefelchen, mit weißem Pelz besetzt, aufs höchste gesteigert.
Der Fergenhannes hatte seinen besten Sonntagsstaat angelegt, den
dreispitzigen Hut statt der Pudelmütze aufgesetzt und stand bereit
seine vornehmen Kunden überzufahren. Der Wind wehte den Schleier
zurück von dem schönen blühenden Gesicht der Dame und dem sonst so
schweigsamen Fergen entschlüpfte ein Ausruf der Überraschung.
Die Dame beachtete es nicht, sie blieb einen Augenblick stehen, eh'
sie das Schiff betrat, und blickte nachdenklich über den Fluss
hinüber. "Da drüben bin ich einmal in großer Angst gestanden," sagte
sie lächelnd zu ihrem Gemahl, "ich habe dir's schon einmal erzählt,
es war am Weihnachtsabend. Ich war immer ängstlich und leicht zu
erschrecken."
"Drum brauchst du guten Schutz," sagte zärtlich der Baron und half
ihr sorgsam in das Schiff.
Dem Christoph hatte der Ferge erlaubt, dass er rudern helfen durfte;
Bärbele hatte sich ihr Vorrecht als des Fährmanns Töchterlein nicht
nehmen lassen: sie saß in ihrem Feststaat am Schnabel des Schiffs
und schaute halb in Angst, halb in Freude mit ihren großen runden
Augen nach der schönen Dame, die ihr wie ein leibhafter Engel vom
Himmel vorkam. Jetzt blickte auch die Dame auf das Kind und rief
verwundert: "Das ist ja mein blaues Kreuzchen, das ich so gern als
Kind und als Mädchen getragen! Kind, woher hast du das?"
"Von meiner Dote," sagte Bärbele sehr bestimmt, in geheimer Angst,
man wolle ihr ihr Kleinod nehmen.
"Was ist eine Dote?" fragte die Dame, der diese Benennung fremd war,
die aber eine plötzliche Erinnerung überflog. "Eine Dote ist eine,
wo einem ein schönes Christkindl (Weihnachtsgeschenk) gibt!" rief
Christoph herzhaft herüber, erschrak aber wieder über seine eigene
Keckheit.
Bärbele hatte die Mutter von frühsten Jahren an so oft und viel
gefragt: "Was ist eine Dote?" dass sie die Antwort auswendig wusste
und jetzt wie ein Sprüchlein andächtig hersagte: "Meine Dote hat in
der heiligen Taufe für mich versprochen, dass ich dem lieben Gott
wolle treu sein, sie hat auch versprochen, dass sie sich an Seel'
und Leib um mich annehmen wolle."
"Hat sie das?" fragte die Dame, der nun wieder die volle Erinnerung
an jenen Weihnachtsabend erwachte, während der Ferge, der sie gleich
erkannt, vom Ufer stieß, halb verlegen, halb verwundert über sein
keckes kleines Mädchen.
"Und wie heißt denn deine Dote, mein Kind?" fragte nun die Baronesse
wieder, indem sie sich liebevoll zu der Kleinen niederbeugte.
"Amalie," erwiderte Bärbele bestimmt, "und sie ist ein vornehmes
Fräulein und ich heiße Barbara Amalie."
"Und Ihr habt mich geführt!" rief die Dame, sich rasch zu dem Ferge
wendend, "und das ist das schwache Kindlein, das ich in der niederen
Stube über die Taufe hielt in jener Nacht, die mir nachher immer wie
ein Traum vorkam?"
"Wann war denn das?" fragte der junge Baron, der nicht recht
begriff, wovon die Rede sei. "O, du warst damals schon auf der Reise
und ich war noch bei deiner Mutter," sagte die junge Frau, und
während der Ferge unter dem Rudern dem gnädigen Herrn die einfache
Geschichte jener Nacht erzählte, hatte sie das Kind zu sich auf die
Bank gesetzt und streichelte seine frischen kalten Wangen und sagte
ihm, dass sie die Dote Amalie sei, was dem Bärbele nun das
Wunderbarste von allem erschien.
Sie waren am Ufer angekommen, und Hannes wollte eilig abstoßen, um
die anderen herüberzuholen; Bärbele wäre gern wie ein Fischlein
geschwind hinübergeschwommen, um der Mutter die merkwürdige
Geschichte zu verkünden. Die Baronesse sagte nur noch im Aussteigen:
"Bärbele, liebes Kind, willst du diesen Nachmittag mit deiner Mutter
zu uns herüberkommen? Bitte, komm gewiss, ganz gewiss!" und sie ging
mit ihrem Gemahl zu Fuß voraus, da die Schlitten noch nicht
übergeschifft waren.
Bärbele aber, sobald der Vater am anderen Ufer angefahren war,
wollte nichts mehr sehen von Damen und Herren; soe sprang, so
schnell ihre Füßchen gehen wollten zur Mutter und schrie ganz
atemlos: "Mutter, Mutter! die Dote, die Dote Amalie, - und sie ist
so arg schön, - und sie ist die neue gnädig Frau, und wir sollen zu
ihr kommen!" Annemarie hatte nun zu tun, bis sie das Kind beruhigte
und nach und nach die Sache erfuhr; da war's ihr denn freilich auch
fast so merkwürdig wie ihrem Bärbele.
Ja es war so. die neue gnädige Frau war die unbekannte Dote, die
damals als ganz junges Fräulein in die arme Fergenhütte gekommen
war. Die Zeit und ein rascher Wechsel von Erlebnissen hatten sie
ganz das kleine Patchen vergessen lassen, das sie auch schon für
sterbend gehalten, als sie es damals auf den Armen hielt; nun aber
wollte sie das Versäumnis gutmachen.
Es war beinahe Abend, als endlich Frau Annemarie sich ein Herz
gefasst hatte und im allerschönsten Putz mit ihrem Bärbele am
Schloss drüben ankam; der Vater hatte sie nur bis ans Ufer
begleitet. Mit Herzklopfen stiegen sie die neuen Treppen hinauf und
betraten das schöne Vorzimmer in dem sie die Kammerjungfer warten
hieß. Sie durften nicht lange warten; bald kam die junge Frau
Baronin selbst, die nun ohne die vielen warmen Hüllen dem Bärbele
erst recht wie ein Engel vorkam. Sie bot der schüchternen Annemarie
herzlich die Hand, freute sich, dass sie wieder so gesund und rüstig
sei, und erzählte ihr die Ursache, warum sie so lange nicht mehr in
die Gegend gekommen sei, so dass die gute Frau ganz zutraulich
wurde.
"Aber ich muss anzünden!" rief plötzlich die Dame und eilte rasch
davon; - nach einer Weile klang ein silbernes Glöckchen, und Bärbele
und ihre Mutter wurden von der Kammerfrau in den großen Saal
geführt.
Ach was für eine Herrlichkeit ging da dem armen Kinde auf! Zur
anderen Türe waren all die Herren und Damen eingetreten, aber
Bärbele scheute sich nicht vor ihnen; sie meinte fast, sie sei
geradewegs in den Himmel hineingekommen, da kam es auf ein paar
Engel mehr oder weniger nicht mehr an. Der große Saal war ganz neu
und prächtig gemalt und von der Mitte der Decke hing ein
kristallener Kronleuchter mit vielen hellen Kerzen, auf den Tischen
unten brannten wieder viele Lichter in silbernen Leuchtern, und
grünen Tannebäume, die in der Eile noch vom Walde gebracht worden
waren. Dazwischen stand prächtiges Zuckerwerk und reiche und
zierliche Geschenke, und die Lichter und die Geschenke und all' das
schöne neue Gerät im Saal flimmerten und funkelten zusammen, dass es
Bärbele war wie im Traum und auch Frau Annemarie nichts konnte, als
ihre Hände zusammenschlagen.
"Sieh, Kind, das ist deine Bescherung," sagte die Dame vom Schloss
und führte Bärbele an einen Tisch, der mit gar herrlichen Dingen
besetzt war; "komm, nimm, das ist alles dein," sagte sie ermutigend,
"deine Pate ist dir ja von lange her das Weihnachtsgeschenk schuldig
geblieben." Bärbele nahte zögernd mit gefalteten Händchen. Von der
Mutter war sie gelehrt worden, eh' sie daheim ihre kleine Bescherung
in Empfang nahm, vorher ein Weihnachtsverslein zu beten, darum legte
sie auch jetzt die Hände zusammen und betete, was ihr eben im
Anblick dieser Pracht einfiel:
"Der Sohn des Vaters Gott von Art,
Ein Gast in der Welt hie ward;
Er führt uns aus dem Jammertal
Und macht uns zu Erben in seinem Saal."
Die Herren und Damen, die auf das Bauernmägdlein wie auf ein
ergötzliches Schauspiel gesehen hatten, fühlten ihr Herz seltsam
bewegt von des Kindes frommen Worten, und die Dote fürchtete fast,
ob sie mit ihren reichen Geschenken nicht des Kindes einfachen Sinn
verderben könnte.
Sie hatte freilich nicht darauf gerechnet, dass sie heute noch einem
Patchen bescheren werde, aber sie hatte ein gutes, freundliches
Gemüt und wusste, dass sie überall Kinder treffe, denen sie Freude
machen könne; darum hatte sie allerlei niedliche Kleinigkeiten
mitgenommen, die jetzt lauter Wunder waren für Bärbele, dazu guten
warmen Kleiderstoff, und als Königin über allem saß eine prächtige
Puppe, Amalies eigene Puppe noch, die sie von den Kinderjahren her
aufbewahrt hatte und die nun dem neuentdeckten Patchen geopfert
wurde.
Bärbele brauchte eine gute Weile, bis ihre Schüchternheit und
Überraschung sie zu Worte kommen ließ, bis sie wagte, so prächtige
Dinge als ihr Eigentum anzusehen; allmählich aber wachte ihre ganze
Lebhaftigkeit auf, sie vergaß alles um sich her und brach zum großen
Ergötzen ihrer Dote in lauten Jubel aus über jedes kleine Stückchen.
"Lueg, Mutter lueg!" rief sie immer wieder, "aber wie schön! aber
das ist noch schöner! das ist am allerschönsten!" freilich verstand
sie den Gebrauch all der schönen Dinge nicht so recht, hielt das
zierliche Häubchen für einen Halskragen, die gehäkelten Schuhe und
das feine weiße Taschentüchlein für ein Halstuch; aber die Puppe,
die prächtige Puppe! die konnte sie gar nicht genug mit ihren
verklärten Augen anstaunen.
"Und das hat dir alles die gnädige Frau Gote gegeben," ermahnte sie
die Mutter. - "Ja," sagte ihr Bärbele halblaut ins Ohr, "aber ich
weiß noch was, der liebe Gott ist eigentlich schuld dran, ich habe
schon oft heimlich gebetet, er soll machen, dass auch meine schöne
Dote wieder komme." Gerührt hört es die Dote und gelobte sich im
stillen, auch durch zu viele Güte nicht den frommen, einfältigen
Sinn des Kindes zu verwirren.
Als ein Wunder des Dorfes war Bärbele mit ihren Schätzen vom Schloss
zurückgekommen, hatte aber all ihren kleinen Kameraden ausgeteilt
und besonders ihren großen Kameraden Christoph nicht vergessen.
So wunderbar und herrlich ist es nun freilich nicht immer
zugegangen; die vornehme Pate lernte Maß halten in ihrer Güte. Aber
sie hat sich getreulich des Kindes angenommen, und ohne ihr die
bescheidenen Heimat und den Stand zu entleiden, in den sie Gott
gesetzt hat, hat sie ihr vieles noch mitgeteilt, was ihren Geist
aufhellte und ihr das Leben bereicherte, und was sie geschickt
machte, vielen mit ihren Kräften zu dienen.
Bärbele wurde die freundliche geduldige Gespielin der kleinen Barone
und Baronessen, die treue befreundete Dienerin ihrer gütigen Pate,
auf die sie sich verlassen konnte in allen Dingen.
Viele Jahre sind nun seit jenem Weihnachtsabend vergangen; der
Fergenhannes und seine gute Annemarie ruhen im Grabe, die Baronin
Amalie auch, und ihre Kinder sind in fernen Landen. Das Schloss aber
wird schön und sorgfältig im Stande gehalten von der stattlichen
Frau Verwalterin, die einmal das kleine Bärbele war. Bärbele ist
Witwe und haust mit ihrem Töchterlein Amalie in einem unteren Zimmer
des Schlosses, die schönen Zimmer hütet sie und hält sie in Ehren
auf die Zeit, wo die Herrschaft wieder einmal einziehen wird. Die
Frau Verwalterin ist weit umher geehrt und gesucht wegen ihrer
Herzensgüte und wegen des klugen und verständigen Rats den arm und
reich bei ihr findet. Am Abend spaziert sie oft hinunter zur Fähre
und plaudert da ein halb Stündchen mit dem Fergen; er heißt nicht
mehr Fergenhannes, aber Fergenstoffel und ist Bärbeles alter Kamerad
Christoph. Wenn Weihnachten kommt, so erzählt sie wohl ihrer Tochter
manchmal von jenem wunderbaren Christfest, wo die fremde Dote
gekommen und ihr so viel Herrliches beschert, aber sie schüttelt mit
wehmütigem Lächeln den Kopf dazu und sagt: "Das ist nun alles längst
vorüber"; wenn aber in der heiligen Weihnacht um die
Mitternachtsstunde der Gesang vom Turme tönt: "Ehre sei Gott in der
Höhe, der Herr ist geboren!" So schaut sie mit freudig leuchtendem
Blick gen Himmel und sagt: "Das geht nicht vorüber, und die schönste
Weihnacht ist uns noch aufgehoben."
Ottilie Wildermuth 1817 - 1877